Yuki Tenuki
Member
- Oct 30, 2020
- 58
This is an article that I recently read in a large German national weekly newspaper called Die Zeit.
The article deals with the high place phenomenon and the question of whether not everyone secretly has a death wish.
Since the article is quite long, I will first write it in my mother tongue.
In the next few days/weeks I will translate the text into English.
Die Zeit N° 48 19. November 2020 Ressort Wissen Seite 37
Man hat Angst vor der Höhe und gleichzeitig den Drang zu springen: ist das eigentlich normal?
Auf hohen Gebäuden, Türmen, Brücken habe ich ein mulmiges Gefühl. Aber häufig kommt mir auch der Gedanke: "Vielleicht springe ich einfach!" Das ist doch total widersinnig - und ich bin wirklich nicht lebensmüde. Es fühlt sich sehr seltsam an, aber auch ein bisschen schön. Zugleich bekomme ich dann ein wenig Angst vor mir selbst: Könnte ich das wirklich tun, kann ich mir über den Weg trauen? Einer Freundin von mir geht es so, wenn Sie auf einem Bahnsteig steht und die U-Bahn einfährt. Was soll das?
fragt Amélie P aus Hamburg
Weil viele Leute, die ich kenne, so etwas erlebt haben, habe ich mit meinen Kolleginnen darüber geredet. Das Phänomen hat es sogar in den Film Fluch der Karibik geschafft. In Folge 4 sagt Captain Jack Sparrow: "Kennt ihr das, wenn man irgendwo runter guckt und plötzlich den Drang hat zu springen? Ich hab den irgendwie nicht."
Viele Leute spekulieren, ob dieses Gefühl auf unbewusste suizidale Tendenzen hindeutet. Dahinter steckt die Annahme dass insgeheim jeder einen Todeswunsch habe. Sigmund Freud hat das vor 100 Jahren behauptet.*
Meine Kolleginnen und ich wollten wissen, was da dran ist. Deshalb haben wir das "high place phenomenon" in einer Studie untersucht, veröffentlicht wurde sie im Journal of affective Disorders. Wir haben 431 Personen gefragt, ob sie schon einmal dieses Gefühl hatten, ob sie Suizidgedanken oder depressive Symptome haben und wie sie Angstsignale ihres Körpers wahrnehmen. Mehr als 30% der Teilnehmer hatten das Phänomen mindestens einmal erlebt. Unter denen, die schon suizidale Gedanken gehabt hatten, war es stärker verbreitet. Aber auch mehr als jeder sechste von denjenigen, die noch nie solche Gedanken hatten, berichteten von diesem Gefühl.
Was besonders spannend war: gerade unter den Probanden ohne Suizidgedanken kannten vor allem diejenigen diesen Drang zu springen, die empfindlicher für Angstsignale ihres Körpers waren, also zum Beispiel für Herzklopfen oder Schwindel.
Wir vermuten deshalb, dass das high place phenomenon eigentlich ein Missverständnis im Gehirn ist, und zwar zwischen dem schnellen und dem langsam Denken. So hat der Psychologe Daniel Kahnemann diese beiden Systeme genannt. Das Angstsystem warnt sehr schnell: "Vorsicht du könntest fallen." selbst wenn es ein Geländer gibt. Das läuft unbewusst. Erst Momente später meldet das Wahrnehmungssystem: "Eigentlich besteht gar keine Gefahr." Es könnte sein, dass manche Menschen aus diesem Widerspruch den Schluss ziehen: "Vielleicht wollte ich ja springen und habe deshalb Angst bekommen." Meine Kolleginnen und ich denken daher, dass dieser Drang zu springen paradoxerweise eher für den Lebenswillen spricht und nicht für einen freudianischen Todestrieb.
von Jennifer Hames, Psychologin
Da der Text einen freudianischen, dem Menschen innewohnenden Todestrieb verneint, war es mir ein Anliegen, kurz auch noch auf etwaige Gegenstimmen zu verweisen.
*Sigmund Freud verweist in seiner Abhandlung "Jenseits des Lustprinzips" darauf, dass es sich bei Lebens- und Todestrieb um zwei von von Uranfang an miteinander ringende Triebe handelt.
Die Abhandlung ist frei im Internet zu finden. Ich habe sie der Einfachheit halber als PDF angehängt.
The article deals with the high place phenomenon and the question of whether not everyone secretly has a death wish.
Since the article is quite long, I will first write it in my mother tongue.
In the next few days/weeks I will translate the text into English.
Die Zeit N° 48 19. November 2020 Ressort Wissen Seite 37
Man hat Angst vor der Höhe und gleichzeitig den Drang zu springen: ist das eigentlich normal?
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Auf hohen Gebäuden, Türmen, Brücken habe ich ein mulmiges Gefühl. Aber häufig kommt mir auch der Gedanke: "Vielleicht springe ich einfach!" Das ist doch total widersinnig - und ich bin wirklich nicht lebensmüde. Es fühlt sich sehr seltsam an, aber auch ein bisschen schön. Zugleich bekomme ich dann ein wenig Angst vor mir selbst: Könnte ich das wirklich tun, kann ich mir über den Weg trauen? Einer Freundin von mir geht es so, wenn Sie auf einem Bahnsteig steht und die U-Bahn einfährt. Was soll das?
fragt Amélie P aus Hamburg
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Weil viele Leute, die ich kenne, so etwas erlebt haben, habe ich mit meinen Kolleginnen darüber geredet. Das Phänomen hat es sogar in den Film Fluch der Karibik geschafft. In Folge 4 sagt Captain Jack Sparrow: "Kennt ihr das, wenn man irgendwo runter guckt und plötzlich den Drang hat zu springen? Ich hab den irgendwie nicht."
Viele Leute spekulieren, ob dieses Gefühl auf unbewusste suizidale Tendenzen hindeutet. Dahinter steckt die Annahme dass insgeheim jeder einen Todeswunsch habe. Sigmund Freud hat das vor 100 Jahren behauptet.*
Meine Kolleginnen und ich wollten wissen, was da dran ist. Deshalb haben wir das "high place phenomenon" in einer Studie untersucht, veröffentlicht wurde sie im Journal of affective Disorders. Wir haben 431 Personen gefragt, ob sie schon einmal dieses Gefühl hatten, ob sie Suizidgedanken oder depressive Symptome haben und wie sie Angstsignale ihres Körpers wahrnehmen. Mehr als 30% der Teilnehmer hatten das Phänomen mindestens einmal erlebt. Unter denen, die schon suizidale Gedanken gehabt hatten, war es stärker verbreitet. Aber auch mehr als jeder sechste von denjenigen, die noch nie solche Gedanken hatten, berichteten von diesem Gefühl.
Was besonders spannend war: gerade unter den Probanden ohne Suizidgedanken kannten vor allem diejenigen diesen Drang zu springen, die empfindlicher für Angstsignale ihres Körpers waren, also zum Beispiel für Herzklopfen oder Schwindel.
Wir vermuten deshalb, dass das high place phenomenon eigentlich ein Missverständnis im Gehirn ist, und zwar zwischen dem schnellen und dem langsam Denken. So hat der Psychologe Daniel Kahnemann diese beiden Systeme genannt. Das Angstsystem warnt sehr schnell: "Vorsicht du könntest fallen." selbst wenn es ein Geländer gibt. Das läuft unbewusst. Erst Momente später meldet das Wahrnehmungssystem: "Eigentlich besteht gar keine Gefahr." Es könnte sein, dass manche Menschen aus diesem Widerspruch den Schluss ziehen: "Vielleicht wollte ich ja springen und habe deshalb Angst bekommen." Meine Kolleginnen und ich denken daher, dass dieser Drang zu springen paradoxerweise eher für den Lebenswillen spricht und nicht für einen freudianischen Todestrieb.
von Jennifer Hames, Psychologin
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Da der Text einen freudianischen, dem Menschen innewohnenden Todestrieb verneint, war es mir ein Anliegen, kurz auch noch auf etwaige Gegenstimmen zu verweisen.
*Sigmund Freud verweist in seiner Abhandlung "Jenseits des Lustprinzips" darauf, dass es sich bei Lebens- und Todestrieb um zwei von von Uranfang an miteinander ringende Triebe handelt.
Die Abhandlung ist frei im Internet zu finden. Ich habe sie der Einfachheit halber als PDF angehängt.
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